Samstag, 17. Dezember 2011

Leerfahrt

23:59 Uhr
Graham Busbahnhof
Talseek City, Großbritanien

Tom starrt in den Himmel, das stillstehende Bild der Sterne observierend, und nippt in nahezu regelmäßigen, aufeinander abgestimmten Zeitabständen an seinem obligatorischen Arbeitsbeginnskaffee. In all seiner Gemütlichkeit nutzt er die letzten Sekunden der letzten Minute und genießt. Er genießt die Stille, die preziöse Leere im Himmelsgewölbe, die die Kälte um ihn herum noch tiefer in die Minusgrade presst. Ihm macht das nichts aus, sein adipöser Körperbau hält warm und bildet einen invisiblen Schutz vor den eisigen Temperaturen, die sich radikal mit den Kältezellen des Körpers in Verbindung setzen, als würden sie an ihre Türen klopfen und ihnen ordnungsliebend auf die Fresse hauen. Hunderttausende Thermorezeptoren arbeiten mit Hochdruck, sie wollen dir sagen: dir ist kalt, zieh' dir was an! Tom hat es nicht nötig, so bleibt er auf der morschen hölzernen Bank sitzen, nur mit einem versifften Hawaihemd und einer weißen Unterhose bekleidet.

Ein letzter Blick auf die Armbanduhr, der Sekundenzeiger schnellt die letzten neunzig Grad nach oben und wird den neuen Tag schneller beginnen, als es Tom lieb ist. Gerade eben noch war es das Nichts, das Gefühl und die Gewissheit, absolut unbeobachtet zu sein, doch das hilft auch nicht. Er setzt den Becher an seine Lippen und schüttet sich die schwarze Brühe den Hals hinunter. Der Sekundenzeiger hat den Arbeitsbeginn bereits herbeigeführt, Tom atmet nochmal tief ein und bringt seine schwerwiegende Masse in Bewegung. Seinen Knochen bleibt keine andere Wahl, als die brachialen Gewichte zu stämmen und sie bis ans Ziel zu schleppen. Sein Gesichtsausdruck bleibt stets derselbe, Schmerz, Angst, Kummer, Anstrengung, Hass, Liebe, all das ist tief im Inneren von Toms Seele verborgen. Eine kryptomere Weise, sein Leben zu führen. Die wenigen flackernden Leuchtstoffröhren, die mit korrodierten Ketten an der Überdachung aus Beton befestigt sind, erzeugen nur schwaches Licht, die stämmigen Stahlpfähle, die den schweren Beton tragen, sind mit alter, durchnässter, plakativer Werbung bestückt, die keinerlei Beachtung genießen können und die rohen Pflastersteine, auf denen man geht und fährt, dienen schon seit einer Ewigkeit als ein Zuhause für Müll und Dreck. Hier hat schon lange niemand mehr gefegt und den Dreck weggeräumt, seit den letzten Besuchern blieb alles liegen. Dieser Ort wirkt nicht einladend, eher abstoßend, und absorbiert auf der Stelle jegliche Freude und alles an Wohlbefinden und Glück. Er ist funebral und grau, abschreckend und brutal, hemmungslos, beunruhigend.

Tom steigt in seinen Bus und macht es sich auf dem Fahrersitz bequem. Auf dem Armaturenbrett häufen sich die Erotikzeitschriften, deren Seiten bereits zusammenkleben, der Gang ist bis in die letzte Reihe mit leeren Kaffeebechern und benutzten Servierten zugemüllt. Er startet den Motor, schließt die Tür und die Fahrt geht los. Knarrende und quietschende Geräusche begleiten das Bewegen der tonnenschweren Last, die auf dem luftgefüllten Gummi der großen Räder liegt. Tom dreht eine kleine Runde und fährt auf die Ausfahrt zu, der Bus verlässt seine Heimat. Außerhalb der Station ist die Atmosphäre nicht schöner. Die Häuser sind alt, verlassen und ruinös, die Dächer bestehen nur noch aus der Holzkonstruktion, die Ziegel sind verschwunden. Der Putz an den Fassaden bröckelt und das Gestein ist mit spaltigen Rissen durchzogen. In den Fensterrahmen sind lediglich noch einzelne Scherben eingespannt. Die Bäume sind kahl, hier gibt es keine Pflanzen. Tom biegt in die Prestonstreet ein, auf der linken Seite kniet ein nackter Mann auf der Straße. Der Bus wird langsamer und rollt in Schrittgeschwindigkeit an ihm vorbei. Er zieht mit aller Kraft am Deckel des Straßenablaufs, der sich vor ihm befindet, scheinbar hat er jedoch keine Chance, nichts bewegt sich. Seine Haut ist dreckig und von blutigen Schnittwunden gezeichnet, in seinem Gesicht schlagen sich Falten übereinander, als würden sie gemeinsam einen steilen Abhang hintunterrollen. Die Form der Knochen sind unter seiner Haut deutlich erkennbar, die vergebliche Suche nach Fleisch und Fett, an ihm ist nicht viel dran. Immer wieder schlägt er mit dem Kopf auf das harte Eisen, sodass Platzwunden an seinem Schädel entstehen, und schaut der feuchten, dunklen Tiefe des Kanals in die Augen. Seine Schreie sind ohrenbetäubend und dringen durch das dicke Glas ins Businnere und erreichen Toms Gehörgänge mit einer schockierenden Gewalt. Als der Mann losschreit, läuft ihm das Blut aus dem Mund und tropft zwischen den eisernen Streben hindurch in den Ablaufschacht. Er kreischt, schlägt mit der Faust auf das Eisen.
,,Gib mir meine Freiheit zurück!"

Eine Seele, die den Gang am Abgrund des Lebens nicht überlebt hat. Seine letzten Leidensschreie hört Tom nur noch flüchtig, im Außenspiegel sind die Qualen seines seelisch kranken Körpers noch immer explizit aufgezeigt, während er wieder beschleunigt. Auf der Straße stehen junge Liebespaare und streiten sich wegen Geldsorgen, dem Gefühl von Einsamkeit und einfachen Meinungsdifferenzen, die sich jedoch mit den wichtigen Dingen im Leben beschäftigen. Ein teurer Luxuswagen steht in einer der lichtlosen Ecken der Stadt, die Scheiben sind vom heißen Atem des verheirateten Geschäftsmannes und der Nutte, die es auf der Rückback hemmungslos miteinander treiben, angelaufen. Die Ehefrau sitzt zu Hause mit dem liebevoll zubereiteten Essen und wartet auf ihren Mann, der im selben Augenblick seinen Schwanz in eine andere Frau schiebt. Sie weiß es, doch die Kraft, sich von ihm zu trennen, die fehlt ihr. Tom beschleunigt den Bus auf fünfzig Stundenkilometer und biegt hundert Meter weiter in die Downstreet ein. Verostete Tonnen stehen auf jeder Straßenseite verteilt, in ihnen tanzen Flammen, die für ein wenig Licht sorgen. Eine Guppe uniformierter Menschen mit Gewehren steht vor dem alten Lebensmittelladen. Einer von ihnen hält ein Kleinkind an den zierlichen Oberarmen fest, das Kind weint und will zu seiner Mama, die vor den dominierenden Männern kniet. Wieder bremst Tom den Bus ab, seine Blicke richten sich auf dieses Szenario. Die Angst des kleinen Jungen ist spürbar. Während die Männer unoffensichtliche Gestiken von sich geben, bewegt er sich auf einer abgrundtiefen emotionalen Ebene, die kaum einem erwachsenen Menschen angetan werden kann. Plötzlich ist die Frau am Boden gezwungen, dem Lauf des Gewehres entgegenzusehen und der Schuss schallt durch die gesamte Stadt. Er ertönt beinahe mit ihrem allerletzten Schrei zeitgleich. Die Wucht der Kugel bricht aus ihrem Hinterkopf aus und das Blut spritzt gegen die verdreckte Schaufensterscheibe und spült den Staub weg. Nacheinander teilen sich die Männer in verschiedene Richtungen auf, sie verschwinden einfach, als wäre nichts passiert. Der Mann lässt den kleinen Jungen gehen und verschwindet ebenfalls. Die Tränen werden dicker und fließen strömender die Wangen hinunter.
,,Mami!"
Er rennt zum leblosen Körper seiner Mutter und fällt auf die Knie. Seine Tränen tropfen auf das blutbesudelte Gesicht und er schüttelt seine tote Mutter in der Hoffnung, dass sie endlich wieder aufwacht. Die Verzweiflung wird mit jeder fließenden Träne immer größer und bedrückender.
,,Mami!"
Der Junge ist mit sich allein, er weiß nicht, was er tun soll. Tom ist das erste Mal in seinem Leben beeindruckt. Beeindruckt von der emotionalen Stärke eines noch so jungen Menschen, er kann sie nicht mehr zurückhalten, die erste Träne seines Lebens. Seine Emotionen durchbrechen seinen kryptomeren Lebensstil und er beginnt, zu trauern. Die Hände des Jungen sind im Blut seiner Mutter getränkt und er kann nicht aufhören, zu weinen. Er schüttelt sie, schlägt auf ihr herum, kreischt sie an, doch es ist vorbei. Gegen die größte Macht der Welt bleibt ihm keine Chance. Er legt seinen Kopf auf dem Brustkorb seiner Mutter ab und umarmt sie. Ihre Augen starren weit geöffnet in den Himmel, es scheint so, als würden sie das stillstehende Bild der Sterne oberservieren. Tom wird plötzlich klar, er muss es verhindern, seinen ausgebrochenen Emotionen erneut den Weg versperren. Instinktiv beschleunigt er wieder auf fünfzig Stundenkilometer und fährt davon. Er lässt das kleine Kind zurück, mit seiner Trauer, mit der Verzweiflung, mit den schmerzhaften Qualen der Liebe. Tom bleibt noch immer sein Bus, seine Leerfahrten durch das Elend. Dem Jungen bleibt nur der tote Körper seiner Mutter und die verstörte Seele, die nun tief in seinem Herzen vor sich hinstirbt. Er schließt seine Augen und lässt den Tränen freien Lauf.

,,Mami!"