Freitag, 4. Dezember 2015

Das Mädchen, das das Lächeln liebte

Sie ist mein Atem, die Zufuhr von Luft in das Innere meiner Lungen. Langsam weht sie durch meine Atemwege, füllt meine Flügel des Lebens, dehnt meinen Brustkorb, unter dem sie ihren Platz gefunden hat und sanfte aber schnelle Schläge nach außen führt. Sie pumpt mein Blut durch die Venen, ist der Grund, dass meine Organe arbeiten. Sie ist das Schmerzempfinden, die Tränen, die meine Wangen herunterkullern, das Vibrieren meiner Stimmbänder, wenn ich schreie. Das Blut, das aus meinen Wunden fließt, der Speichel, der meine Lippen benetzt, die Haut, die meinen Körper umhüllt, die Muskeln, die mich bewegen, die Haare, die meinen Kopf bedecken. Die Knochen, die zerbersten und das Fleisch, das verbrennt, all das ist sie, und der erste Regentropfen fällt.
Ich blicke gen Himmel, dem zweiten Tropfen entgegen. Dann fällt der Dritte, der Vierte und der Fünfte zerplatzt auf meiner Stirn. Ihretwegen fühle ich das kühle Nass auf meiner Haut und durch sie sehe ich den schwarzen Himmel sich in ein helles Grau färben, als der Schöpfer einen Blitz durch die Sphäre schickt. Sie ist mein Gehörgang, durch den der Donner mein Trommelfell erzittern lässt. Sie ist das Kribbeln in meinen Armen unter den aufgestellten Härchen, die Anspannung meiner Muskeln. Das Adrenalin, das mich nervös macht, die Unruhe.

Tage voll wärmender Umarmungen ließen wir hinter uns, bedeutende Worte flossen über unsere Lippen, unsere Beine trugen uns durch den Schmutz, die Liebe wusch uns rein.
Die Regentropfen schlagen auf ihr Nachthemd, wachsende Flecken verdunkeln den seidenen Stoff. Sie windet sich, strampelt mit den Beinen, doch viel Bewegungsfreiheit lassen ihr die Seile um ihren Körper nicht. Der Regen erschwert es, ihre Tränen zu erkennen, doch ich bin mir sicher, dass sie weint, denn auch mir fließt die erste Träne über das Gesicht. Ich steche in den Erdhaufen, führe das Spatenblatt über sie und verharre einen Moment. Sie schreit und scheint all ihre Kraft in diesen Moment zu stecken und, so gut es der Knebel in ihrem Mund zulässt, ihre Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Ihre Augen weit offen, den Kopf wild schüttelnd. Ein Gedanke der Wehmut geht mir durch den Kopf, es tut mir leid, glaube ich zu hören. Dann drehe ich den Spatenstiel in meinen Händen und die Erde rutscht und fällt hinab, meiner Liebsten entgegen. Blitze schießen durch die Wolken und der Himmel bebt. Eine Schaufel nach der Anderen füllt das Loch mit der Erde. Darunter begraben, mein Schmerz, meine Gefühle. Meine Tränen und die Trauer werden bedeckt, meine Verzweiflung und die Hoffnung verschwinden nach und nach unter dem großen Bestandteil der Natur. Du bist alles, was ich zum leben brauche, höre ich mich zu ihr sagen. Du bist einfach ich, hallt es in meinen Gedanken. Ein letztes Mal hebt sie den Kopf, NEIN, vermögen ihre Augen zu schreien, doch nichts davon kommt an. Die Oberfläche der Erde, die sie bedeckt, bewegt sich, als krieche ein großer Wurm unter ihr hindurch. Ich schaufele weiter. Die Bewegungen werden schwächer. Dann sehe ich sie vor meinem inneren Auge. Ihre blonden Haare wehen im Wind, sie neigt den Kopf leicht zur Seite, die Lippen öffnet sie ein wenig. Sie lächelt.
Sie liebte es, zu lächeln. Sie gab mir so viel, doch nichts davon reichte aus, meinem dunklen Geist Einhalt zu gebieten. All die Jahre, die wir gemeinsam durchlebten, schlummerte er in den Tiefen meiner Seele. Ich dachte, sie gab mir die Kraft, ihn besiegt zu haben, ich hoffte es. Er jedoch erwachte stärker als zuvor und zwingt mich nun mich zu zerstören. Nicht mehr existieren soll ich, der Welt nicht den Sauerstoff nehmen. Ich versuche zu schreien, fick dich, du mieses Stück Dreck. Fick dich für deinen Willen, fick dich für deinen Hinterhalt und fick dich für diese Grausamkeit. Fick dich für Alles! Auch aus mir kommt kein Ton heraus. Er ist zu stark. Sicherlich bin ich bereits erstickt, meine Rippen drohen unter der Last der Erde zu zerbrechen. Ich habe mein Leben vernichtet und sehe ihn sich befriedigt im Dunkel zurückziehen. Als das Loch wieder dem Erdboden gleicht, auf dem ich stehe, blicke ich zum Horizont und erinnere mich: Auch ich liebte es einst, zu lächeln.