Sonntag, 10. September 2017

Lass mich sterben

Der Regen küsst meine Lippen. Ist dies der letzte Abschiedskuss? Der letzte Kuss, bevor mich das Dunkel mit in die Ungewissheit nimmt, fühlt sich kalt an. Ohne Liebe. Liebe, die ich seit der Zeit, die meine Welt ergrauen ließ, vergebens suche. Die ich dachte, jetzt gefunden zu haben und doch nicht greifen kann. Fühle ich nach ihr, löst sie sich in ein Nichts auf, wie die Tropfen, die zergehen, wenn ich versuche, den Kuss des Regens zu erwidern. Da ist kein Halt und keine Sicherheit.

Es donnert. Meine Muskeln krampfen, ich habe Angst. Weitere Schritte zu bewältigen, durch den Sumpf, der die Zeit verlangsamt, fürchte ich. Er gibt mir das Gefühl, nicht voranzukommen. Schritte nach vorn sind es, die meine Reise beenden sollten, doch ich trete auf der Stelle. Meine Fußstapfen sind tief, aber einsam. Aus ihnen winkt mein Ziel, während ich die Hand ins Leere strecke und mit der Sehnsucht die erste Träne fließt. Lange kann ich nicht spüren, wie sie an meiner Wange nach unten rinnt, denn mit dem Regen treibt sie davon und so wird nicht einmal mehr die Trauer greifbar. Mein Blick verschwommen, unklar, wohin ich gehen kann. Auf der Suche nach einem Ausweg aus der Hülle, die nicht meine ist, ist das alles keine Hilfe. Die Dunkelheit und Kälte, der Wind, der sie in meine Augen weht, erschaffen ein neues Labyrinth im Bestehenden. In einem Irrgarten aus gegen Zweifel kämpfender Nichternsthaftigkeit, gehe ich durch einen Grund aus Schlamm und Asphalt. Auf einer Strecke, die keine Wahl lässt über schnell oder langsam. Stehe ich dann vor einer Tür, hinter der sich ein Weg hier raus befinden könnte, stellt sich doch nur die Frage zum wiederholten Male: lohnt es sich?
Lohnt es sich, anzuklopfen? Wartet hinter dieser Tür die Antwort auf die Frage, was ich verdient habe? Oder ist es doch nur ein weiterer Gang ohne Ausweg? Ich wünsche mir, die Sonne wiederzusehen.
>>Bitte lass mich die Sonne wiedersehen<<, sage ich, ohne zu wissen, wer mich hören soll.
Ich klopfe an die Tür. Die Kraft schwindet aus meinen Beinen, als das Leben öffnet und einen Gang offenbart, dessen Ende im Schwarz des Horizonts liegt. Klopf klopf. Wer ist da? Keine Antwort. Ich weiß es nicht.
>>Geht es Ihnen gut?<<
Ich richte meinen Blick zur Seite. Eine Frau und ein Mann stehen dort und schützen sich mit einem Regenschirm vor dem Regen. Ihre Blicke wirken wartend. Wartend darauf, dass ich antworte.
>>Ja<<, antworte ich und lächle.
Die Frau rollt mit den Augen, zuckt mit den Schultern. Der Mann schüttelt leicht den Kopf.
>>Gehen wir, Schatz.<<
Sie gehen und mit jedem ihrer Schritte schwindet die Spannung aus meinen Lippen, die das Lächeln formte. Hand in Hand gehen sie durch die Wand aus dicken Regentropfen und küssen sich, bevor ihre Silhouetten ganz verschwinden. Das Verlangen, nach ihnen zu greifen, steigt in mir auf. Ich schließe die Augen, greife nach vorn, doch bekomme nichts zu fassen und schreie. Meine Trommelfelle beben und als ich die Augen wieder öffne, bin ich zurück. Schlamm und Asphalt. Türen. Zweifel. Liebe ist nichts für mich.
Ich bin fertig damit, die fröhliche Fassade meines Lebens vor dem Bröckeln zu bewahren, fühle mich müde. Ich lockere den Griff nach Liebe, lasse die Zweifel gewinnen und versuche zu entspannen. Die Dunkelheit ummantelt mein Herz, ich atme langsam. Nach ein paar letzten Schritten, falle ich auf die Knie und starre in die Pfütze auf dem Boden. Das Gesicht im Wasser blickt mir in die Augen und so verharren wir. Erste Sekunde. Zweite Sekunde. Dritte. Vierte.
>>Lass mich sterben<<, sagt das Gesicht.
Sechste Sekunde. Siebte.
Ich denke darüber nach. Neunte Sekunde. Dann nicke ich. Zehnte. Wir sind uns einig.
>>Lass uns sterben<<, sage ich.
Es donnert. Meine Muskeln krampfen, ich habe Angst.